Archive by Author

Die vielen Winkel des Karnevals von Béla Hamvas

29 Mai

Die Lesung hatte bereits begonnen, als alle Besucher in den Raum des Stadtmuseums gingen. Irgendwo hinsetzen, sagte Michael Raffel. Möglichst chaotisch. Aus allen Winkeln kam gleichzeitiges Lesen; eine Frauenstimme, zwei Männerstimmen. Und mittendrin drei Leinwände, die Schwarz-Weiß Fotos zeigten. Ich saß in der Mitte, lauschte nach rechts, beugte mich dann ein wenig nach links, um aus der Lesung der Schauspielerin Martina Schiesser in die Lesung von Gabor Altorjav zu tauchen. In der anderen Ecke las Carsten Dane.

Ein Dong erklang. Wie es auch im Buche steht.

Béla Hamvas ungarischer Kultroman Karneval unterliegt der großen Vision von Gabor Altorjav und Carsten Dane: ohne Aussicht auf einen Verlag übersetzen sie seit zehn Jahren den 1985 erschienen Roman. Damit er auch für ein großes Publikum in einer großen Sprache zugänglich sei. Denn sie sind überzeugt von diesem Roman, von seinen vielen historischen Schichten, Stilebenen und Sprachen.

Die Lesenden kommen an dem Tisch in der Mitte zusammen. Wein- und Wassergläser stehen neben ausgedruckten Manuskriptseiten auf dem Tisch, die Hälfte der Rotweinflasche ist leer. Die Schichten lesen sich heraus; Martina Schiesser liest auf der ersten Ebene des Romans. Stakkatoähnliche Beschreibung des Tauwetters, der Kneipe, der Pfützen. Dazwischen große Dialoge um den Hauptcharakter Mihály Bormester, in denen Verderben, Familie und der Bohneneintopf ausdiskutiert wird. Die Übersetzer führen einen Dialog aus, denn zwischen den Geschichten des Romans geschieht die zweite Ebene, der Autor diskutiert selbst mit der Hauptfigur über das Schreiben und das Leben. Auf die Frage, wer er, ob Autor oder die Figur, denn sei, vermehren sich die Sprachenvielfalt und die Identitätsmöglichkeiten, die Aussprache schwingt durch spanische Eroberer, englische Dichter, ungarische Berühmtheiten. Der sprachliche Sog fängt den Besucher; mich.

Glänzend und gänzlich gingen auch die Vorleser in den Texten von Béla Hamvas auf. Oder andersherum? Die Texte gingen in den Vorlesern auf. Gabor Altorjav las einen langen Teil des Textes zum Schluss, unterstrich jeden Satz mit einer ausladenden Armbewebung, vergaß beinahe ganz seinen kleinen Akzent. Es war, als könne er niemals mehr aufhören, diesen Text zu lesen. Ganz gefangen.

Sie ebenfalls; sie brachte den Text zum Publikum, sie wartete in aller Stille und sprach dann langsam: „Warten.“ Noch eine Weile. Bis der faszinierende Abschnitt über das Warten folgte: „Wenn dort, wo man ist, nichts geschieht“.

In einer Zeit, die Ähnlichkeiten mit Proust vorweist. Und doch ganz andere, eigene Philosophien vorweist: „Die Zeit entsteht aus Überzeitlichem und das Überzeitliche entsteht aus der Zeit“. Und so arbeiten sich beide Übersetzer weiter durch den vielschichtigen Roman aus Geschichte, Philosophie und Sprachen, aus dem damaligen Alltag, das Schreiben, das Leben. Durch ein sehr beeindruckendes Werk, das sie fesselt, mit dem sie auch die Zuhörer durch ihre Multimediapräsentation einfangen. Geplant ist so etwas bald in Berlin. Und bis dahin gibt es die Hälfte des 1500-Seiten-Roman hier als „digitales Samisdat“: www.hamvaskarneval.mediatransform.de.